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Manfred Schweiss
Zeichnungen, Collagen, Strukturen
von Dr. Monika Rudolph
Die Universität Hohenheim ist für den in Sillenbuch lebenden
Künstler Manfred Schweiss ein in mehrfacher Hinsicht vertrauter Ort.
In den 70er Jahren verweilte er als junger Architekt im Dienste des
Universitätsbauamtes der Stadt Stuttgart in Minuten des Innehaltens
unter den prachtvollen Eichen des Schlossparks. Am 10. Januar 2003
wurden die im Laufe der Jahre entstandenen Baumstudien mit der Serie
der Blauen Bilder im Blauen Saal der Universität Hohneheim
ausgestellt. Heute präsentier er die Fortsetzung seines grafischen
Oeuvres in zahlreichen Darstellungen.
Ältere Darstellungen wurden in kopierter Form als Bildgrund
verwendet und auf unterschiedlichste Weise künstlerisch bearbeitet.
Übermalt, geknüllt, gezeichnet, schraffiert, ein Collageschnipsel
zerschnitten, montiert, geklebt, struktural vernetzt und verdichtet,
charakterisieren sie eine technische Herangehensweise des
spielerisch kreativen Gestaltens mit einer unendlich erscheinenden
Variationsbreite. Vom Bildhintergrund steigen die Erinnerungsfäden
vergangener Arbeiten zur Bildoberfläche empor. Auf diese Art
und Weise kann Innovatives entstehen, ohne Vergangenes gänzlich in
Vergessenheit geraten zu lassen. Die Fotokopien führen die
Bilderzyklen mikro- und makrokosmischer Betrachtungen fort.
"Natur" ist das allumfassende Thema dieser
Ausstellung. Dabei nimmt das Motiv des Baumes als ein Bestandteil
von Landschaft in naturalistischer Detailstudien und strukturalen
Abstraktionen einen besonderen Stellenwert ein. Von Kindheit an war
der Baum als Sinnbild für Verwurzelung, Standhaftigkeit, Lebens- und
Schutzbaum für Manfred Schweiss sowohl Spiel- als auch Ruheplatz.
Aufgewachsen ohne die leibliche und stützende Präsenz des Vaters
half das Sein in der Natur über die schwierige Zeit der 40er- und
beginnenden 50er Jahre hinweg.
Als O2-Spender sind Bäume nicht nur bedeutend für unser
filigranes Ökosystem - sie können auch "heilend" auf Leib, Geist und
Seele wirken. In vergangenen Jahrhunderten wurden über heidnischen
Kultplätzen sakrale Bauwerke errichtet. Diese stehen oft an
exponierter Stelle und in einer von Bäumen umgebenen großartigen
Landschaft. In der beispielweise zwischen Schorndorf und Schwäbisch
Gmünd gelegenen Klosteranlage Lorch werden in thematischen
Veranstaltungen Standorte von Bäumen, Büschen, Pflanzen und
Freiflächen sowie Gebäudeteile in ihrer energetischen Ausstrahlung
auf den Menschen hin untersucht, indem man sie mit historischen
Ereignissen konfrontiert. Das ist eine Form von Selbsterfahrung.
Zu den Naturritualen heutiger Zeit gehört auch "Das Sprechen mit
Bäumen". Der bedeutende Musikwissenschaftler des letzten
Jahrhunderts, Joachim Ernst Berendt, beschreibt in seinem 1999
erschienenen Buch "Es gibt keinen Weg. Nur Gehen. Sein in der Natur"
in zahlreichen Kapiteln eigene Erfahrungen mit Bäumen, die er mit
interessanten interkulturellen und musikwissenschaftlichen Beiträgen
ergänzt.
Das Geheimnis liegt in der Erkenntnis, daß wir unabhängig von religiösen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten im philosophischen Sinne ein Teil der Natur und mit ihr "Eins" sind. Aus diesem Grunde sollten wir achtsamer mit ihr und uns umgehen! An dieser Stelle möchte ich auf die philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung von Alfred Schmidt über "Goethes herrlich leuchtende Natur" hinweisen. Hier werden beispielsweise Goethes Aussagen wie "Natur kann nicht irren, wohl aber der Mensch" und "Die Unbedingtheit der Natur schließt ein, daß sie eine seiende, nicht bloß gedachte, gar imaginierte Einheit ist." Im Kontext seiner Naturforschungen und dem dialektischen Denken von Hegel, Jacobi, Kant und Schiller erörtert.
Zurück zu den Bilderwelten von Manfred Schweiss.
In älteren Arbeiten gestaltet er den Baum als Mittler zwischen
Himmel und Erde zu einer symbolhaften Kathedrale. Sein
jahreszeitlich bedingtes, sich stets veränderndes Erscheinungsbild
initiiert zu variationsreichen poly- und monochromen Serien. Von der
vollen Blüte bis zum absterbenden Ast, der Baum ist wie der Mensch
dem Alterungsprozess ausgesetzt. Das menschliche Antlitz in
expressivem Zeichengestus zu gestalten, und dieses wiederum in
Baumstrukturen einzubinden, deutet auf Parallelen eines Leidensweges
hin. Von der Ecce-Homo Darstellung bis zu romantisch-märchenhaften
Andeutungen von Baumriesen, Waldgeistern und Zwergen werden der
Phantasie des Betrachters keine Interpretationsgrenzen gesetzt.
Eigene Lebenserfahrungen, natur- und geisteswissenschaftliche
Erkenntnisse, Dichtkunst und Musik begleiten seinen Zeichen- und
Malduktus. Dieser ist selten statisch. In rhythmischer Bewegung wird
er formender Ausdruck innerer Erkenntnis, das daß Leben im stetigen
Fluß und dem Wandel der Zeit ausgesetzt ist.
Joachim Ernst Berendt schildert in seinem Kapitel "Der Weltenbaum"
die zahlreichen Symbolformen innerhalb der einzelnen Kulturen und
Religionen. Einleitend schreibt er (Zitat): "Auffällig viele
Entwicklungsstrukturen lassen sich graphisch am besten durch
Baum-Schemata darstellen: von der Hierarchie der Engel - neunstufig
zwischen den "niederen" engelhaften Wesen und den Cherubim-, wie sie
der christlichen Mystiker Dionysius Areopagita in der Mitte des
ersten Jahrhunderts gesehen hat, bis zu den Organisationsschemata
jedes beliebigen modernen Industrie- und Wirtschaftskonzerns."
Der Hochschulprofessor Manfred Schweiss, der viele Jahre
Gestaltungslehre im Fachbereich Textildesign an der Fachhochschule
für Technik und Wirtschaft in Reutlingen unterrichtete, betrachtete
es als seine Aufgabe, bei den Studierenden auch über das
Zweckgebundene eines Studiengangs hinaus, Naturbeobachtung und
kulturgeschichtliches Wissen zu fördern. Wie Joachim Ernst Berendt
ist Manfred Schweiss viel durch die Welt gereist. Seine
Reiseerlebnisse teilt er gerne in spannenden Erzählungen mit.
Der Künstler Manfred Schweiss sucht im Zeichen- und Malduktus, in
Form und Farbe die Nähe zur Musik und Lyrik. Rhythmus, Klang, Ton,
Harmonie, Dissonanz, Reibung, Dynamik, Eindruck, Ausdruck, Stimmung,
Lautmalerei, Komposition, Improvisation sind Substantive, die sowohl
Qualitäten der Bildenden Kunst als auch der Musik und Dichtung
charakterisieren können. Die Journalistin Gerlinde Ehehalt bezieht
sich inhaltlich in ihrem einfühlsam geschriebenen Atelierbericht
über Manfred Schweiss am 15. Januar 2009 auf diese Thematik (Zitat):
"Er entwickelte eine ganz eigene Technik mit vielen kleinen,
energischen Strichen, die mal expressiv, mal ganz sensibel gesetzt
Bilder voll großer Dynamik erschafft. Es sei der Musik vergleichbar,
irgendwann im kreativen Zeichenprozess entstehe eine Art Rhythmus,
entfalte sich eine Melodie, die keine akustischen, sondern visuelle
Töne erzeugt. Es ist für Manfred Schweiss ein geistig-seelischer
Prozess, der ihn vollkommen ergreift." Die Freundschaft zu dem
Stuttgarter Musikprofessor Joachim Schall haben wohl sein
Hörerlebnis Neuerer Klassik musikalische Elemente zu Bildelementen
vor dem geistigen Auge geformt - Synästhesien, die der große
abstrakte Maler Wassily Kandinsky vor ungefähr einem Jahrhundert in
seiner Schrift "Über das Geistige in der Kunst" im Kapitel V.
Wirkung der Farbe zu analysieren versucht.
Manfred Scheiss rezitiert gerne Gedichte und interpretiert
Textauszüge von Platon, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich
Hölderlin, Novalis, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse und vielen
anderen. Wohlklang, Versmaß und Wortwahl im Sprachlichen regen Geist
und Sinne an. Es entstehen spontan innere Bilder, die nach außen
drängen und zu eigenen gestalterischen Ausdrucksformen anregen. So
wie Musik und Sprache unterschiedliche Stimmungen ausdrücken und bei
der Hörerschaft verschiedene Gefühlsregungen evozieren können,
intendiert das Bildkünstlerische physisch-psychische Wirkweisen.
Ein umfangreiches Wissen gestalterischer Gesetzmäßigkeiten aus dem
Fundus der Lehre und den Erfahrungen jahrelangen Übens kennzeichnen
die Bandbreite der bildnerischen Möglichkeiten. Die Grafiken
entstehen im Atelier. In der Natur wird fotografiert und skizziert.
Auf diese Art und Weise wird Naturbeobachtung dokumentiert,
gesammelt und geordnet, um Gesehenes in Gestaltkünstlerisches in der
Anwendung unterschiedlicher Techniken zu transformieren. Die
beispielsweise spezifischen Eigenschaften von Schnee auf Baum- und
Erdstrukturen von der kristallinen Struktur des Eises über die
einzelne Schneeflocke bis hin zur schmelzenden, tropfenden
Schneedecke mit dem wieder zum Vorschein kommenden Untergrund des
Erdbodens interessieren ihn sehr. Er versucht sie gestalterisch
strukturell in Flecken und Flächen, in Hell-Dunkel- und
Kalt-Warmkontraste zu erfassen. Rückblickend formuliert er diese
sinnlich, geistig und seelische Wahrnehmung am 4.11.07 in seinem
handschriftlichen Essay "Erinnerungen an ein früheres Bild Erde und
Schnee: "Ich weiß noch genau in meiner Erinnerung wie ich in der
Vergangenheit 1965 das Bild Erde+Schnee gemalt habe und was ich
dabei empfunden habe. Es müßte wohl Anfang März des Jahres gewesen
sein. Die erste Sonnenwärme ließ die Kälte des weißen Schnees
schmelzen. Das Gefühl von kalt+warm durchzog meine Seele. Das Leben
wird durch Wärme und Kälte bestimmt. Im Innen- und Außenbereich des
Menschen, im leiblichen und im seelischen Dasein. Dies wollte ich in
einem abstrakten nicht gegenständlichen Motiv zum Ausdruck
bringen.""
Man kann den Künstler Manfred Schweiss
stilistisch nicht in eine kunsthistorische Schublade pressen. Sein
bisheriges Lebenswerk wurde sowohl vom Berufsbild des Architekten,
des Keramikers und der Hochschulprofessur in der Gestaltungslehre
geprägt. Er ist kein Einzelgänger. Mit großem Interesse hat er die
Kunst seiner Zeit wahrgenommen. Gerne trifft er sich mit
Architekten- und Künstlerfreunden zu einem regen Gedankenaustausch.
Sein aufmerksamer Blick auf die aktuelle Kunstszene, auf Politik und
Gesellschaft machen ihn zu einem interessanten Gesprächspartner.
Natur in ihrer mannigfaltigen Erscheinungsform ist von dieser Welt.
Sie durchdringt Manfred Schweiss leiblich, geistig und seelisch und
nährt seine Kunst.
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